Weitere Informationen unter http://www.hanser.de/buch.asp?isbn=978-3-446-41566-9&area=Wirtschaft
Zuallererst: Der Originaltitel von „Die Stunde der Stümper“ klingt mit „The cult of the amateur“ wesentlich langweiliger. David Keen will sein Buch als Polemik verstanden wissen. Eine gute Polemik zeichnet sich dadurch aus, dass man darüber diskutieren will. Will ich.
In der Marktforschung geht es darum, Orientierungspunkte für die Kunden zu schaffen. Erkenntnisse an vorhandenes Wissen so anzuschließen, dass daraus unternehmerischer Mehrwert generiert werden kann. Das Web 2.0 ist eine weniger einfach zu nutzende Quelle als es auf den ersten Blick scheint. Keen zeigt Stolpersteine auf, deren Erkennen (auch) in der Marktforschung qualitative Auswirkungen haben.
Die Positionen, die ich aus der Keen’schen Polemik extrapoliert habe:
Social Media / Web 2.0 hat das Problem des Konjunktivs.
Man könnte viel / alles, aber der zeitliche / personelle damit: finanzielle Aufwand ist so groß, das man in der Praxis / tatsächlich erstaunlich wenig schafft. Das Problem des 21. Jahrhunderts: Selektion.
Um diese zu leisten, begibt sich der Internetnutzer in die Abhängigkeit von Suchmaschinenanbietern, deren erstes Interesse ist, mit Werbung Geld zu verdienen. Das heißt, die Hilfsmittel, die verwendet werden, haben einen anderen Hauptzweck (damit sie als Hilfsmittel umsonst angeboten werden können). Wie vertrauenswürdig ist ein solches Hilfsmittel im Extremfall?
Was das für die Marktforschung heißt:
Bei der Bewertung von hoher Relevanz im Sinne der Suchmaschinenergebnisse muss sich die Marktforschung im Klaren sein, dass man es mit einer „Black Box“ zu tun hat. Man kann nicht exakt nachvollziehen, weshalb Ergebnisse nicht, wie oder wo auftauchen. Dieses Manko trägt jede semantische Analyse in sich, die im Wesentlichen auf Suchmaschinenergebnissen aufbaut. Quelldaten erscheinen vollständiger als sie sind. Die Definition des Analysebereichs ist darum umso wichtiger.
Ich glaube nicht, dass es das perfekte technische Tool dafür geben wird, jeweils (!) für die individuelle Person den Müll vom Interessanten zu trennen. Das Wesentliche mag noch technisch erreichbar sein. Ein zentraler Aspekt des Interessanten scheint mir zu sein, dass es in Randregionen unseres Wissens liegt, es damit ausdehnt. Derartige Grenzregionen sind meiner Ansicht zu individuell und zufällig fürs technische Profiling.
Ganz abgesehen davon, dass meiner Ansicht nach eine Vertrauensdebatte in den nächsten fünf Jahren losgetreten wird, die die Verwendung des technischen Profilings (welche Daten nutzen Suchmaschinenanbieter wie?) zum Inhalt hat und eher höhere Wellen schlagen wird.
Was das für die Marktforschung heißt:
Auch für Marktforschung gilt, dass vorhandene Social Media Gruppen nicht einfach mit Marktforschung durchseucht werden dürfen. Denn ist den Nutzern klar, dass eine „Informationsabzocke“ stattfindet, ist Vertrauen im Nu weg, ist Schluss mit der Offenheit – die gesamte Gruppe inklusive des Gründers wird diskreditiert.
Misstrauen, das Schleudertrauma des Web 2.0
Web 2.0 verlangt Vertrauen gegenüber anonymer Masse (Weisheit der vielen – wisdom oft he crowds / Nutzergenerierte Inhalte)
Youtube ist nach Keen (S.78) die Demokratisierung des Boulevards, der Agitation und Manipulation. Die Gefahr der Abwendung und des Misstrauens wird damit erhöht. Wer sich „dahinter“ verbirgt, ist für den Nutzer nur schwer nachvollziehbar, da alles unter Pseudonymen veröffentlicht wird. Das Problem der nutzergenerierten Inhalte ist also, dass man sich nicht sicher sein kann, ob es ist was es scheint (Keen S. 90). Hier beißt sich das System – die Katze in den Schwanz. Denn die eigentliche Schutzfunktion, seinen Namen nicht öffentlich preiszugeben, verkehrt sich in die Möglichkeit, alle möglichen Schindluder im verantwortungsfreien Raum zu treiben. Genau diese Tatsache, Verantwortung nicht oder nur unter sehr großem Aufwand einfordern zu können, lässt kein Vertrauen entstehen.
Was das für die Marktforschung heißt:
Personen für Marktforschung aktiv zu gewinnen dürfte schwieriger werden, denn bei Marktforschung handelt sich um die Preisgabe von persönlicher Information. Zudem wird auch die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der befragten Zielgruppen im offenen Web 2.0 schwieriger zu erzeugen sein. Umso wichtiger werden für die Marktforschung Onlinepanels mit ihren verifizierten Panelteilnehmern.
Die totale Demokratisierung des Web 2.0 als Mahlstrom der Kultur
Totale Demokratisierung heißt totale Beliebigkeit heißt keine Orientierungspunkte, um Vertrauen zu entwickeln. Damit geht auch den Verlust kultureller und sozialer Errungenschaften einher. Alles wird weggespült, das Kind mit dem Bade – da es nicht mehr auffällt, untergeht in der Web 2.0 Masse (vgl. Keen S. 78f, 87).
Fehlinformation ist nicht löschbar
„Das Medium, in dem Informationen registriert werden, ist nun das Internet, in dem Fehlinformation nie wieder verschwinden. Das heißt, unser Speicher für aggregierte Information wird durch Fehler und bewussten Betrug infiziert“ (Keen S.86)
Ein weiterer Baustein des potenziellen Misstrauens. Denn selbst wenn eine falsche Information korrigiert wird: wer hat diese korrigiert mit welcher sachlichen Kompetenz und wie kann man das als Nutzer nachvollziehen? Was heißt falsch? Das kann im Falle moralischer, gesellschaftlicher und politischer Information ausschließlich Kontextabhängig beurteilt werden. Dieser Kontext, der Rahmen der Information, kann aber nahezu beliebig verändert werden.
Zweifach versteckte Manipulation
Die erste ist Search Engine Optimization (SEO). Damit wird versucht, die eigenen Informationen im Suchmaschinenranking so weit nach oben wie möglich zu platzieren. Das heißt, die Rankings der Suche die man ausführt wird nicht zwingend die inhaltlich besten Ergebnisse auf den ersten Positionen zeigen, sondern die am besten der an den Suchmaschinenalgorithmus angepassten.
Die zweite steckt in den wenigen Beeinflussern, die das Web 2.0 maßgeblicher beeinflussen als es offensichtlich ist. Keen S.106 nennt ein Beispiel wonach von 900.000 Digg Nutzern 30 für ein Drittel aller Nachrichten auf der Startseite verantwortlich waren.
„Die Untersuchung des Wall Street Journal zeigt also, dass diese Websites eher den Vorlieben weniger als der „Weisheit“ der Vielen entsprechen.“ (Keen S. 106)
Der kleine Kreis Bestimmer verschwindet hinter einem scheinbar neutralen Algorithmus. Und welche Motivation außer ihren „Vorlieben“ haben diese „Bestimmer“ noch? Werden Sie bezahlt? Von wem?
Was das für die Marktforschung heißt:
Gerade bei der Social Media Analyse, die mit technischen Hilfsmitteln arbeitet, müssen diese Manipulationsmöglichkeiten untersucht und berücksichtigt werden.
Holzweg
Weisheit der vielen ist nur Popularität der vielen. Popularität ist aber kein Maßstab für Weisheit.
Es scheint also eine kritische Überprüfung der Wortwahl notwendig, gerade der populären Schlagwörter: sind nutzergenerierte Inhalte auf Englisch user generated content nicht eher user generated garbage, nutzergenerierter Müll – mindestens für die meisten. Durchwühlen müssen sich alle durch alles. Ist das effizient? Führt das zum Ziel? Und wie weiter oben beschrieben, wird der Weg, das für sich interessante, wichtige zu finden, durch versteckte Manipulation im Zweifelsfall erschwert.
Meine daran anschließende Frage: Gehört die Zukunft dem „Alles-in-einem-Soziales-Netzwerk“ (derzeit hat Facebook die besten Chancen) oder doch den spezifischen abgeschlossen „nur mit Anmeldung und Empfehlung“ Netzwerken, die die „Müllmenge“ von vornherein reduzieren?
Querschläger
Die wirtschaftlichen Interessen der Anbieter. Es werden überwiegend „Hüllen für Werbung“ (Keen S.152) produziert. Wo bleiben kulturell wertvolle Inhalte? „Die Identifizierung und Förderung weniger wahrer Talente in einem Meer von Stümpern könnte sich als die wirkliche Herausforderung in der Web-2.0-Welt von heute erweisen.“ (Keen S.38) Alles könnte in Sekundenschnelle in Erfahrung gebracht werden, aber ich brauche Stunden, um es tatsächlich zu finden, weil Suchmaschinen- und andere Anbieter wirtschaftliche, Unternehmenserfolgsorientierte Interessen verfolgen: das Informieren ist Vehikel!
Zeitraubender Akt des Präsentierens
Man ist zu aktiv, kann zu wenig zuhören (Keen S.43).
Erweiterte Reflexionen darf man nicht zwingend erwarten. Bietet Social Media in vielen Facetten also kein wirklich reflexives Medium in dem Sinne, dass es Anstöße intellektuell verarbeitet? Bleibt es stattdessen beim „re-tweet“, der Verlinkung, dem Posting bei der bloßen Dokumentation des „das passt zu mir“. Fehlt zur innerlichen Auseinandersetzung „inwiefern?“ die Zeit? Oder wird diese Diskussion im (oft bruchstückhaften) Aufeinanderreagieren „nur“ extrem sozialisiert, das heißt aufgesplittert in Chats, Forenentgegnungen etc.?
Was das für die Marktforschung heißt:
Postings müssen entsprechend keine tiefe Überzeugungen darstellen, sondern können einfach so im Eifer der aktiven Darstellung „weil es gerade passt“ platziert werden. Diese „Insights“ müssen also im Zweifel auf Ihre Bestandsfestigkeit überprüft werden.
Haltlosigkeit
Das Web 2.0, genauer: die immerwährende Veränderungs-Rekombinations-Optimierungswelt des Web 2.0 fließt zu schnell, um Orientierungspunkte entstehen zu lassen. (Keen S. 68-70) Das Web 2.0 lässt keine fixen Standpunkte entstehen. Das kennzeichnet jedoch eine Kultur.
Allerdings ist das von Keen verwandte Beispiel (Keen S.68ff) diskussionswürdig. Er stellt das Buch oder Lied eines Künstlers (Beethoven, Madonna etc.) gegen sogenannte Mashups, das versatzstückartige Weiterverwenden und Neukombinieren von Medieninhalten. Allerdings: wie sieht das mit Roll over Beethoven aus? Ist kulturelle Leistung nicht immer das mehr oder minder starke Reagieren auf Bestehendes? Im aktuellen Fall der Plagiatsdiskussion rund um Helene Hegemanns Abschreiben in Ihrem Roman „Axolotl Roadkill“ wird deutlich, dass der Grat schmal ist und die Diskussion offen.
Was das für die Marktforschung heißt:
Postings müssen entsprechend keine eigenen Überlegungen oder Überzeugungen darstellen, sondern können auch ganz einfach per copy-and-paste „in die eigene Darstellung integriert“ werden. „Insights“ müssen also im Zweifel auf Ihre Herkunft überprüft werden, denn Motivation und Leistung von Abgeschautem und Originellem sind sehr unterschiedlich zu bewerten.