In der Zeit 42/2016 schreibt Jens Jessen den Artikel „Die Macht Beleidigten“ zum Leitthema der Ausgabe. Derzeit ist der Artikel kostenpflichtig zugänglich und hier zu bestellen, hier können Sie prüfen, ob der Artikel bereits kostenfrei zur Verfügung steht.
Diesen Satz des Artikels finde ich bemerkenswert:
„Im Kern geht es nicht mehr um die Durchsetzung von Sprachregeln der Rücksicht und Höflichkeit (und ihrer möglichen Übertreibung). Es geht um eine Zensur der missliebigen Wirklichkeit.“
Heißt aus meiner Sicht: wenn es einem nur gelingt, genügend „Follower“ zu bewegen, wird Wirklichkeit nicht mehr diskutiert, sondern mittels sozialer Masse ignoriert.
Im letzten Abschnitt des Artikels wird ein weitere Auffälligkeit deutlich: das Außergewöhnliche darf insbesondere von in der Öffentlichkeit stehenden Personen als Meinung nicht mehr – zumindest nicht außerhalb von meist medial erzeugten spezifisch konstruierten „Wettbewerbsrahmen“ (stellvertretend sei Germanys next Top Model genannt) – als außergewöhnlich benannt werden. Denn dieser öffentlichkeitswirksamen Meinungsäußerung wird eine aktive Zurücksetzung des Durchschnittlichen unterstellt. D.h. hier wird mehr oder weniger bewusst der primäre Kontext einer Aussage ignoriert.
Beide genannten Aspekte zeigen, dass „soziale (Media) Masse“ Mittelmaß erzeugt und zementiert. Sei es politisch korrekt sei es willentlich ignorant. Es ist letztendlich eine reaktionäre Sicherung des Status Quo, die damit jegliche soziale Innovation zu verhindern sucht, die sich ja ebenfalls vom Mittelmaß abheben muss.
Wie sich das zukünftig entwickeln und ausprägen könnte, zeigt Super Sad True Love Story von Gary Shteyngart. Das lesenswerte Buch zeigt im Setup der eigentlichen (Liebes-) Geschichte einige Aspekte auf, auf die ich hier nicht eingehe, dafür auf Brian Warmoth’s Überblick hinweise.
Nebenbemerkung:
Ich sollte den sozialen Änderungsaspekt, den der Shteyngart’sche Äppärät verursacht, an anderer Stelle ausführlicher würdigen. Zu würdigen wäre außerdem die Medienvision, die Shteyngart darstellt, die ausschließlich besteht aus persönlichen „Streams“, in denen bewusst „gefühlt“ wird.
Den Aspekt des Setups des Buches, den ich in vorliegenden Zusammenhang aufgreifen möchte: soziale Profile eines jeden sind öffentlich zugänglich durch den Äppärät, ein augmented virtual reality fähiges Smartdevice, den einfach jeder jederzeit mit sich führt und ganz vorwiegend durch diesen mit anderen kommuniziert. Eine gängige soziale Umgangsform ist das FECen – forme eine Community. Durch das FECen werden persönlichste Aspekte (u.a. Attraktivität, Bonität, Gesundheit) augenblicklich öffentlich gerankt.
Dies könnte das – üble – Ende des Sozialen Massen-Drucks werden: persönliche Meinung zählt nicht mehr, vielmehr wird Meinung durch Social Ranking ersetzt.
Ist es absurd anzunehmen, dass Sozialer-Massen-Druck in Zeiten digital einfachster Erzeugung eine Gefahr der freien Meinungsäußerung darstellt?
In Shteyngarts Welt haben nur die VIPs keinen Äppärät und entziehen sich so dem dargestellten Sozialverhalten. Macht und die Mächtigen entziehen sich diesen sedierenden Spielereien des Volkes. Ist es absurd anzunehmen, dass Menschen, die sich ganz und gar auf das persönlich vorteilhafte Social Ranking konzentrieren und in diesem Sinne meinungsfrei sind, besser zu steuern sind?
Mir scheint es nicht absurd und so stelle (ich mir und Ihnen werte Leser) folgende Aufgabe: was sind geeignete Gegenkräfte zum erwähnten Sozialen-Massen-Druck? Wie die ganz grundsätzlich großartige Freiheit der digitalen Verfügbarkeit von Information, Meinung und Reaktion erhalten? Wie die persönliche Widerspenstigkeit langfristig behalten, die der Macht die Steuerbarkeit erschwert?